Liebe Leserinnen und Leser,
"Die Chemie verdient ihren schlechten Ruf nicht!" - so brachte es 2019 der Schweizer Proteinforscher und Nobelpreisträger Kurt Wüthrich auf den Punkt, und in der Tat: in der breiten Öffentlichkeit sind beim Thema Chemie unverändert viele negative Assoziationen vorhanden. Dabei ist die Chemie ohne jeden Zweifel für eine Vielzahl industrieller Wertschöpfungsketten unverzichtbar und einer der wichtigsten Impulsgeber für neue Produktentwicklungen und Innovationen in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen. Und dennoch: trotz aller zurückliegenden Erfolge im Hinblick auf signifikante Reduktionen von Emissionen, Energie- und Ressourcenverbrauch erfahren die Forderungen nach einer grünen, nachhaltigen und gleichsam effizienten Chemie eine neue Dynamik, ungeachtet dessen, dass sich die chemische Industrie den herausfordernden Zielsetzungen einer Defossilisierung ihrer Produktionsprozesse, der Etablierung einer zirkulären Stoff- und Energiewirtschaft sowie dem Erreichen von Treibhausgasneutralität vielerorts längst stellt.
Zudem zeigt sich immer deutlicher, dass sich die Forcierung einer grünen, effizienten und nachhaltigen Chemie auch aus wirtschaftlichen und wettbewerblichen Gründen lohnt. Die Nachfrage seitens der verarbeitenden Industrie nach grünen Prozessen und Vorprodukten (»nachhaltige Lieferkette«) steigt stetig und Wettbewerbsvorteile lassen sich durch Effizienzsteigerungen oder die Erschließung nachhaltiger Rohstoff- und Energiequellen immer besser realisieren.
Diese neue „Green Chemistry“-Dynamik mit neuen Forschungs- und Entwicklungsbeiträgen gezielt zu unterstützen ist die zentrale Mission, der sich neun Fraunhofer-Institute seit nunmehr drei Jahren in einem gemeinsamen, interdisziplinären Leitprojekt widmen. Unter dem Titel »Shaping the Future of Green Chemistry by Process Intensification and Digitalization (ShaPID)« betreibt die Fraunhofer Gesellschaft eigenständige angewandte Vorlaufforschung, um Wege aufzuzeigen, wie eine nachhaltige, grüne Chemie durch praxisnahe technologische Innovationen gelingen kann. Das Spektrum an Beispielprozessen ist dabei denkbar breit. Wie kommen wir von CO2 und biogenen Rohstoffquellen zu neuen Polymeren? Wie gelingt die energieeffiziente Synthese wichtiger Monomer-Bausteine aus nicht-fossilen Rohstoffen? Oder wie können hochreaktive Spezies für die atomeffiziente Herstellung von Vorprodukten nutzbar gemacht werden? Im Leitprojekt ShaPID werden dazu komplementäre Technologien aus verschiedensten Bereichen der Synthese-, Reaktions- und Katalysetechnik, der Elektrochemie, der kontinuierlichen Prozess- und Verfahrenstechnik, der Modellierung, Simulation und Prozessoptimierung sowie der Digitalisierung und Automation passfähig zusammengeführt. Wir sind überzeugt: diese Interdisziplinarität ist der Schlüssel für das Erreichen der notwendigen Technologiereife neuer grüner, chemischer Prozesse. Dazu bedarf es auch geeigneter „Green Metrics“-Konzepte und Tools, um bereits entwicklungsbegleitend die „Greeness“ chemischer Prozesse möglichst objektiv, qualitativ und quantitativ beschreiben zu können.
Wir freuen uns, dass wir für diese Ausgabe der Chemie Ingenieur Technik einen ersten Einblick in einige unserer Arbeiten zusammenstellen durften. Im Namen des gesamten Fraunhofer ShaPID-Teams hoffe ich, dass Sie bei der Lektüre auf Interessantes für Ihre eigenen Arbeiten stoßen und wünsche uns allen, dass es gelingt der Chemie und ihrem Ruf neue grüne Impulse zu verleihen.
Dr. Stefan Löbbecke